Auswandern nach Island

Persönliches aus und über Island

Das Wort Auswandern hat etwas Endgültiges. Etwas, was sich schwerer umkehren lässt als der Entschluss, das Leben in einem unbekannten Land zu probieren. Zumindest emotional. Weil, was ist, wenn sich die Wünsche, Vorstellungen und Erwartungen nicht erfüllen, aufgrund derer man sich für ein Leben außerhalb Deutschlands entschieden hat? Ist man dann gescheitert? Muss man sich dann rechtfertigen?

Im Nachhinein betrachtet bin ich froh, dass die große und klassische Bedeutung des Wortes "Auswandern" für mich nie Thema war. Weit im Voraus alle praktischen und formellen Vorbereitungen planen, alles Hab und Gut in Container verschiffen und Freunden und Bekannten Lebewohl sagen. All das war nicht mein Weg bei der Entscheidung, in Island Fuß zu fassen. Vielmehr war es ein Scheideweg nach 10 Jahren Alltagstrott in Partnerschaft und eigenem Unternehmen. Alltag, der mich zunehmend unglücklicher gemacht und mir das Gefühl gegeben hat, dass ich an meinen persönlichen Vorstellungen und Leidenschaften vorbei lebe. Kurzum: Nach gleichzeitig stattfindender privater wie beruflicher Trennung war es der Wunsch, in dem mir bekannten und geliebten Island für einige Zeit Abstand zu finden. Das kurzfristige und flexible Planen der Isländer machte es dann alles ganz schnell und einfach. Aus „irgendeinem“ Grund hatte ich die Visitenkarte einer Projektmanagerin im Ökodorf Sólheimar seit unserer ersten und einzigen kurzen Begegnung in England drei Jahre zuvor mit der Gewissheit aufgehoben, dass ich „irgendwann“ einmal ihrer Einladung folgen würde, als Freiwillige in Sólheimar zu arbeiten. Auf meine kurze Anfrage im Mai 2015, ob es denn für Sommer im gleichen Jahr noch eine Möglichkeit für mich gäbe, vorbei zu kommen, fiel ihre Antwort kurz und bündig aus: „Gern würden wir dich hier haben. Lass mich deine Daten wissen, wann du kommen willst.“ Gesagt, getan. Drei Wochen später war mein Flug gebucht. Und weitere vier Wochen später saß ich im Flieger nach Keflavík, dem internationalen Flughafen Islands. In Berlin lediglich einige Kisten bei einem Freund zurücklassend und das Gefühl der großen und kaum zu fassenden Freiheit mit mir nehmend. Partner, Firma, Wohnung und etwa 70 % persönliches „Zeug“, was sich in 37 Jahren so angesammelt hat, gab es nicht mehr. Simplicity sollte das neue Lebensmotto werden!

Dass es Island sein „musste“, lag wohl an meiner ersten Begegnung mit dem Land im Geografie-Unterricht. Also mehr als 20 Jahre zuvor. Dass Menschen auf einer sich durch aktiven Vulkanismus laufend verändernden Insel mitten im Atlantik leben könnten, übte eine große Faszination auf mich aus. Eine Faszination, der ich 2011 mit einem ersten Besuch nachkam. Und die dadurch umso stärker wurde. Bereits während der ersten Fahrt vom Flughafen zum Ferienhaus im Süden, vorbei an den dampfenden Spots in der Landschaft, wusste ich: An diesem Fleck Erde wirst du länger festhalten, worauf zwei weitere Reisen, ein Isländisch-Kurs an der Volkshochschule in Berlin, das Verschlingen von Literatur über das Leben auf und mit der Insel und das stetig wachsende Herz für dieses Land folgten.

© Claudia Kerns

Start in ein neues Leben

Der Flieger brachte mich also Ende Juni 2015 nach Island. Die vereinbarte Zeit als Freiwillige in Sólheimar war auf so ziemlich genau acht Wochen terminiert. Der Rückflug war also auch schon klar. Genauso wie zwei Jobangebote, die mir im Anschluss an die Rückkehr nach Berlin sicher waren. Doch bereits nach zwei Wochen in Sólheimar wusste ich, dass ich hierbleiben „muss“. Jetzt oder nie. Bewusst, dass die gewonnene Freiheit und die Reduzierung großer Verpflichtungen in Deutschland wohl kein zweites Mal im Leben einfach so um die Ecke kommen würden. Ein unendlich starkes Grundvertrauen, dass alles schon „irgendwie“ werden wird, war die (einzige) Sicherheit, die ich dafür hatte. Eine Sicherheit, die damals völlig ausreichend war. Wohl auch, weil sie auf die Mentalität getroffen ist, mit der Isländer ihr Leben leben. Ein Leben im Hier und Jetzt. Ein Leben auf Abruf. Ein Leben kurzfristiger Entscheidungen und noch kürzerer Planungszeiten. Dass ich also in Island beruflich einen Einstieg und auch einen Platz zum Wohnen finden würde, darum habe ich mir keine Sorgen gemacht. Für mich war klar: Das wird schon.

Aus der beschriebenen emotionalen Euphorie und einem Grundvertrauen in mich und meine neue Umgebung hat mit der Entscheidung, mit mehr als einem Auszeit-Rucksack bepackt ein Zimmer in Reykjavik zu beziehen, die Auseinandersetzung mit der Realität des Lebens auf der Insel Einzug gehalten. Mit den Worten einer Freundin könnte ich auch schreiben: „In Island ist die Fallhöhe zwischen Urlaub und Leben besonders groß.“

Freibad in Island direkt am Meer © Claudia Kerns

Einen Broterwerbsjob hatte ich innerhalb von wenigen Tagen. Der exponentiell wachsenden Tourismuswirtschaft sei Dank. Ein Hotel nach dem anderen wird eröffnet und der Bedarf an Arbeitskräften ist u. a. dort sehr hoch. Besonders auch an ausländischen Arbeitskräften, da Servicejobs im Hotel nicht unbedingt zum Traum isländischer Arbeitskräfte gehören. Mit Englischkenntnissen und der Dankbarkeit, schnell finanzielle Grundsicherung zu erhalten, macht es einem das Land also recht leicht, die ersten Schritte zu gehen. Vor allem auch als Bürger eines EU-Staates. Obwohl Island sich gegen eine Mitgliedschaft in der EU entschieden hat, gehört es zum Schengen-Raum, was sowohl Aufenthalt als auch Arbeiten ohne bürokratische Hürden möglich macht. Einmal im Besitz seiner persönlichen Personenkennzahl (Kennitala) ist man Mitglied der Gesellschaft und erhält Zugang zu allen grundständigen Rahmenbedingungen, wie Eröffnung eines Bankkontos, Registrierung beim Finanzamt und damit Aufnahme einer Beschäftigung, Abschluss von Verträgen. Zur Beantragung braucht man lediglich einen Wohnsitz und finanzielle Unabhängigkeit für 6 Monate nachzuweisen. Ein Formular, welches schnell ausgefüllt und eingereicht ist.

Formal aufs Erste also alles recht einfach. Vielmehr wurde relativ schnell erfahrbar, was es wirklich heißt, wenn deutsche planvolle Vorgehensweise auf isländische „Schauen-wir-mal“-Mentalität trifft. Erfahrungen im ersten Job, die sich in den folgenden Monaten vertiefen sollten.

Grundsätzlich wird es einer Deutschen innerhalb Europas sehr einfach gemacht, in einem anderen Land zu leben und zu arbeiten. Aber ich bin auch der Meinung, dass bestimmte Herausforderungen in eigener Orientierung und Zurechtfinden bestehen bleiben sollten. Leben in einem anderen Land verlangt soft skills, die dadurch auf die Probe gestellt oder auch trainiert werden können.

Hinsichtlich der Sprache sollte man aber vorbereitet sein: Auch wenn, wie in Island, Englisch zum Leben ausreicht, sollten Auswanderer die Sprache ihres neuen Landes schneller auf Konversationsniveau bringen. Nur so hat man gute Chancen, ein wirklicher Teil des Lebens dort zu werden. Island ist ein kleines Land mit gerade einmal 330.000 Einwohnern. Die zu Kinder- und Schulzeiten entwickelten Freundschaften bleiben in der Regel ein Leben lang bestehen und sind Grundlage des eigenen sozialen Netzes. Hinzu kommt die starke Familienverbundenheit, die für Isländer einen entscheidenden Wert im Leben hat. Beide Voraussetzungen machen es für Zugezogene nicht einfach, feste verlässliche Vertrauensbeziehungen zu Einheimischen aufzubauen, die über den allgemeinen Small Talk hinausgehen. Insofern behaupte ich, dass ich mich akzeptiert, aber längst nicht integriert fühle.

Fairerweise will ich jedoch nicht unerwähnt lassen, dass ich im ersten Jahr den Fokus auf meinen neuen beruflichen Weg gelegt habe, für den meine Englischkenntnisse ausreichend waren. Die Landessprache zu beherrschen ist jedoch ein wesentlicher Aspekt, wenn man von geglückter oder verunglückter Integration spricht. Deshalb beginne ich ab Herbst diesen Jahres, Isländisch als zweite Fremdsprache an der Universität Islands zu studieren. Ein Vorhaben, das länger in mir gereift ist und auf das ich mich sehr freue. 

Isländischer Fischer © Claudia Kerns Isländischer Fischer © Claudia Kerns
Süße Spezialitäten aus Island © Claudia Kerns Süße Spezialitäten aus Island © Claudia Kerns
Warnschild an Pool in Island © Claudia Kerns Warnschild an Pool in Island © Claudia Kerns

Unterschiede zu Deutschland

Dem drohenden Inselkoller entfliehe ich durch gelegentliche Besuche in Deutschland, aber ansonsten zieht es mich nicht zurück. Zwar wird das Gesundheitssystem in Island viel beklagt und hängt dem Standard in Deutschland weit nach – angefangen von personellen Verfügbarkeiten über das Know-how des Fachpersonals bis hin zur medizinischen Ausstattung. Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass man ab dem ersten Tag mit Aufnahme einer Tätigkeit oder automatisch nach 6 Monaten Aufenthalt im Land staatlich geregelten kostenfreien Zugang zu medizinischer Grundversorgung hat.

Arbeitnehmer haben mit der Macht der Gewerkschaften im Land einen hohen und sicheren Status. Regelmäßig neu stattfindende Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften schaffen rechtsverbindliche Regelungen, die öffentlich kommuniziert werden und für jedermann einsehbar sind. Auch wenn es immer wieder Arbeitgeber gibt, die versuchen, die Unwissenheit ausländischer Arbeitskräfte zu ihren Gunsten auszunutzen, geben Rechte und Regelungen Sicherheit, auf die man sich berufen kann und auf deren Durchsetzung man im Zweifelsfall durch Unterstützung der Gewerkschaften gegenüber Arbeitgebern stets vertrauen kann.

Darüber hinaus würde ich, soweit informiert, die soziale Absicherung als mit Deutschland vergleichbar einschätzen - Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Unterstützung bei Geburt eines Kindes, Pflege im Alter.

Warum ich hier bleibe

Das Spannende am Leben in einem anderen Land ist, wenn von außen betrachtet vieles bekannt, dies bei genauerer Betrachtung jedoch in anderer Bedeutung erscheint. Und so ist es die Mentalität der Isländer, die für mich besonders ist. Besonders im Sinne einer Lebenseinstellung, die besser zu meinen eigenen Gewohnheiten passt. Und besonders im Sinne persönlicher Herausforderung, andere Denk- und Handlungsansätze zu testen und in meinen Alltag zu integrieren.

Die isländische Lebensart besteht vornehmlich aus Reagieren anstelle von langfristig überlegtem Planen. Verabredungen beispielsweise werden kurzfristig getroffen. Bereits Tage oder Wochen vorab sich zu vereinbaren ist eine Unmöglichkeit. Denn wer weiß schon, ob zum vereinbarten Termin nicht ein Familienmitglied Unterstützung benötigt, das Kind versorgt oder das Auto repariert werden muss? Das bringt viel Gelassenheit in den Alltag. Vorausgesetzt, man ist in der Lage, sich auf ein geringes Maß an Verbindlichkeit und Verlässlichkeit bei getroffenen Vereinbarungen einzustellen. Isländer erscheinen diesbezüglich unberechenbar. Da jedoch (fast) jeder so agiert und einem gleichzeitig Verständnis entgegengebracht wird, wenn man selbst getroffene Vereinbarungen mal nicht einhalten kann, ist es ein Fluss gelebter Lebenseinstellung. Eine Lebenseinstellung, die dem in deutschen Landen wohl bekanntem strengen Zeitregime und getaktetem Lebensalltag entgegensteht. In Island wird Zeit vielmehr relativ wahrgenommen.

Einerseits lebt sich diese Gelassenheit im Umgang mit Zeit sehr angenehm. Andererseits hat sie aber auch ihre Schattenseiten. Beispielsweise wenn Mieter mit einer Vorlaufzeit von nicht mehr als zwei oder vier Wochen ihre Kündigung erhalten. Ob Single, Pärchen oder Familie mit Kindern: Wenn dem Vermieter in den Sinn kommt, seine Wohnung neu zu vermieten oder anderweitig zu nutzen, darf er das. Mieterrecht hat in Island eine sehr geringe Bedeutung, weshalb es auch nicht unüblich ist, dass zwischen Mieter und Vermieter kein schriftlicher Vertrag geschlossen wird. Wie auch im beruflichen Kontext. Arbeitsverträge sind existent auf der Insel, aber nicht bei allen Unternehmern. In der stark wachsenden Tourismusindustrie versucht das Tourism Board durch ein noch junges und erstes branchenbezogenes Qualitätsmanagementsystem gegen diesen Zustand anzukämpfen. Zumindest bei den Unternehmen, die sich für diesen Prozess des Qualitätsmanagements entschieden haben, wird dafür gesorgt, dass jeder Mitarbeiter – ob fest angestellt oder freiberuflich - einen Vertrag hat, der die gegenseitigen Anforderungen und Ansprüche regelt.

Wo Island glänzt, ist im Bereich der Familien. Kinder haben einen hohen Stellenwert und dass Kindererziehung und Arbeitsleben gleichwertig nebeneinanderstehen, ist gelebte Praxis. Es ist normal, dass Kinder zu Meetings mitgenommen werden, wenn kurzfristig Betreuungsengpässe aufkommen. Oder dass Väter um 12 Uhr das Büro verlassen, weil das kranke Kind aus der Kita abgeholt werden muss und die Mutter unabkömmlich ist. Kinder sind zu jeder Tageszeit und zu jedem Anlass im Leben sichtbar. Das finde ich besonders und schön. 

Was ich zukünftigen "Isländern" rate

Es gibt nur einen Ratschlag: Mach deine eigenen Erfahrungen und lass dich ein auf ein Abenteuer mit mehr Unbekannten, als dir deine Vorstellungen momentan bieten. Bist du schnell und wendig, werden dir stets zur rechten Zeit am rechten Fleck die richtigen Menschen begegnen. Für Unterstützung. Für Ermutigung. Oder einfach nur zur Gesellschaft. Der Weg ist deiner!