Mehrsprachige Erziehung von Kindern im Ausland

01.02.2022

Deutsche im Ausland stehen vor besonderen Herausforderungen, wenn ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen. Manchmal verlieren diese den Anschluss an die deutsche Sprache. Nadja Herkner ist Sprachheilpädagogin mit psychoanalytischer Zusatzausbildung  und Gründerin des Mehrsprachigkeitsnetzwerks "SprachFamilien - WeltKinder". Sie lebt in Mailand und arbeitet seit über 10 Jahren als Coach und Logopädin mit multilingualen Familien. Im März 2020 hat sie das Projekt "WeltKinder" ins Leben gerufen.

Welche Herausforderungen haben multilinguale Familien?

Die meisten multilingualen Familien, mit denen ich zu tun habe, leben im Ausland. Bei ihren Kindern ist die andere Sprache, also die Umgebungssprache, die stärkere Sprache. So verstehen die Kinder zwar gut Deutsch, weil die Eltern mit ihnen Deutsch sprechen, antworten aber meist in Englisch, Norwegisch…, wo auch immer die Familien wohnen. Es ist ja toll, wenn Kinder so viel Deutsch verstehen, eine gute Basis, aber ein Kind, das nicht Deutsch redet, schneidet sich auf dem Weg ab, sein Deutsch zu verbessern, sowohl grammatikalisch als auch im Hinblick auf den Wortschatz. An dem Punkt setzen wir an und bieten den Familien Hilfe an.

Sie helfen, dass das Kind zum Reden kommt?

Ja, die Kinder, mit denen ich arbeite, haben meist ein recht gutes Sprachverständnis des Deutschen, sprechen aber aktiv gar nicht oder eher ungern.

Ich helfe in den Coachings und den Online Kursen dabei, diese (meist inneren) Hürden zu überwinden, indem positive verstärkende Anreize geschaffen werden, die dem Kind Motivation und Mut geben, „einfach“ drauf los zu sprechen. Dann geht es meist sehr schnell, dass die deutsche Sprache in Fluss kommt und in Grammatik und Wortschatz ganz automatisch erweitert wird – und auch immer mehr Freude bereitet.

Kann es zu Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern mit mehrsprachiger Erziehung kommen?

Sprachentwicklungsverzögerungen können sich sehr vielfältig äußern. Aber sie sind nicht durch Mehrsprachigkeit begründet – niemals. Mehrsprachigkeit ist grundsätzlich eher eine Chance, weil sie den Blick auf Sprache ändert. Die Kinder haben größere Möglichkeiten, Sprache von außen zu betrachten, weil sie sehen, dass es Unterschiede in den verschiedenen Sprachen gibt. Leider empfehlen immer noch viele KollegInnen, ÄrztInnen und LehrerInnen, dass sich ein Kind mit Problemen in der Sprachentwicklung auf eine Sprache konzentrieren soll. Eltern sind häufig sehr verunsichert, wenn sie sich an mich wenden. Bei der Beratung und therapeutischen Arbeit sind unterschiedliche Punkte zu beachten. Eine Sprachentwicklungsverzögerung ist meist in allen Sprachen vorhanden, die das Kind spricht. Sollte nur eine Sprache betroffen sein und die andere wurde fehlerfrei und ohne große Hürden erworben, sind wahrscheinlich andere Gründe vorherrschend.

Viele Faktoren spielen eine Rolle. Weil ich auch eine Ausbildung in der Tiefenpsychologie für Kinder und Jugendliche habe, ist mein Blickpunkt immer auch ein psychologischer: Wie effizient erlebt sich das Kind in seiner Kommunikation? Wie viel Raum hat es, Dinge auch selber zu erkunden und Fehler zu machen? Mehrsprachigkeit hat viele Vorteile, auch für die Sprachentwicklung.

Erzählen Sie doch einmal über Ihr Projekt "WeltKinder", bei dem sich deutschsprachig erziehende Eltern aus aller Welt gegenseitig helfen.

Wir veranstalten regelmäßige Online-Elterntreffs, bei denen sich Eltern kennen lernen und Fragen stellen können. Ich gebe nicht nur mein Expertenwissen weiter, sondern es entsteht eine Diskussion unter den Eltern mit ihren vielfältigen Erfahrungen. Auch in der entsprechenden Facebookgruppe findet ein reger Austausch statt. So fragt zum Beispiel jemand nach einer Buchempfehlung für ein 10-jähriges Kind, das noch nicht so gut Deutsch liest, aber sich interessiert für dieses und jenes… Schnell kommen dann 10 Antworten.

Und wir haben die Kurse, in denen sich Kinder aus aller Welt mit einer Kursleiterin online zusammenfinden. Dieses wunderbare Projekt läuft seit zwei Jahren und über 200 Kinder aus 30 verschiedenen Ländern machen mit. Es geht neben der Sprache auch darum, den Blickwinkel auf die Welt zu erweitern und die Verbindung zu den deutschsprachigen Herkunftsländern der Eltern wach zu halten. Wir sprechen in den Kursen über deutsche Traditionen und Gewohnheiten. Die Kinder treffen sich in festen Gruppen, die wir nach Alter, Sprachkenntnissen und Interessen zusammengestellt haben. Die Gruppen sind klein, mindestens 3 und maximal 5 Kinder. Diese schalten sich wöchentlich über Zoom zusammen, was wirklich gut klappt. Da die einzige gemeinsame Sprache Deutsch ist, ist es sehr authentisch. Die Kurse führen zu einem enormen Zuwachs an Wortschatz und Grammatik, aber auch zu dem Gefühl, hier nicht der/die einzige zu sein. Vor Ort haben sie ja wenig Kontakt zu anderen deutschsprachigen Kindern.

Ihr Team besteht aus 12 pädagogisch geschulten und erfahrenen „WeltFrauen“. Warum sind es nur Frauen?

Das ist eine gute Frage. Ich habe sie kürzlich auch in meiner Gruppe gestellt, weil tatsächlich nicht nur die Kursleiterinnen Frauen sind, sondern auch in der Facebookgruppe mit ihren über 7.000 Leuten über 95 % Frauen sind. Das hat sicher noch mit der traditionellen Zuständigkeit für Erziehungsfragen zu tun, die uns Frauen eher zufällt. Vielleicht gehen wir mit Sprache auch anders um und räumen ihr einen größeren Stellenwert ein.

Viele Frauen sind wegen dem Partner ins Ausland gegangen oder sind im Ausland geblieben, weil sie einen Partner kennengelernt haben. Mit der Anpassung an eine neue Sprache, ein neues Land, eine neue Kultur haben sie selber eine hohe Flexibilität bewiesen. Oft merken sie, wenn die Kinder 7 oder 8 sind, dass es nicht so gut mit dem Deutschen klappt, wie sie es sich gewünscht hätten. Sie wollen trotz aller Anpassung auch die eigenen Wurzeln erhalten. Das ist der Moment, in dem wir häufig in Kontakt kommen.

Aber ich freue mich, dass auch hin wieder Väter bei den Treffen dabei sind und für Coachings oder wegen der Gruppen mit mir in Kontakt treten. Auf einen netten Kursleiter warten wir noch…

Da schließt die nächste Frage gut an: Ist nicht der Begriff Muttersprache in Zeiten von Gender und engagierten Vätern überholt?

Der Begriff wird immer wieder diskutiert. Ich mag den Begriff der Herzenssprache. Die Mutter hat ihr Kind unter dem Herzen getragen hat und hat ihm klassischerweise die Sprache mitgegeben. Das geht natürlich auch mit der Vatersprache oder es kann auch die Sprache der Oma sein. Ich denke, dass es mehrere Herzenssprachen geben kann. Bei Mehrsprachigen geht das sehr schnell. Wenn man sich vorstellt, dass jemand, der zweisprachig aufwächst, sowieso schon 2 Sprachen hat, die ihm am Herzen liegen. Ich habe mit Familien zu tun, die tatsächlich versuchen, 5 bis 6 Sprachen in ihrer Familie unterzubringen, weil alle auch irgendwie Herzenssprachen sind. Ich sage trotzdem öfter Muttersprache, weil ich überwiegend mit Frauen zu tun habe und Deutsch dann wirklich die Muttersprache ist.

Besuchen eigentlich viele WeltKinder eine deutsche Schule?

Nein, die meisten WeltKinder, die in den Gruppen mitmachen, besuchen eben keine deutsche Schule. Uns geht es darum, die Ressource, die sie zu Hause haben, weil dort jemand Deutsch spricht, wiederzubeleben. Dazu erarbeiten wir Konzepte, wie die WeltKinderZeitung, die es umsonst zum Download gibt. Deren Redaktion stellt für die Kinder etwas zur Verfügung, bei dem sie Lust bekommen, zu schreiben. Viele Kinder reden gut und ganz selbstverständlich Deutsch. Aber wenn es dann ums Lesen und Schreiben geht, ist es häufig schwierig, weil das anstrengend ist, wenn es nicht die erste Sprache ist.

Ein weiteres Problem ist, dass die sprachlich geeigneten Bücher für das Alter häufig zu langweilig sind. Und wer wenig liest, hat wenig mit Rechtschreibung zu tun und tut sich mit dem Schreiben schwer. Um da zu motivieren, haben wir die WeltKinderZeitung ins Leben gerufen, die kurze Artikel anbietet und häppchenweise motiviert. Die Kinder steuern auch eigene Texte bei, die wir vorsichtig – nicht mit dem Rotstift – korrigieren.